2022-05-29

50 Jahre UFE - Beinahe ein ganzes Leben Teil 9

Jetzt sind wir in den 80-er Jahren angekommen. Die Tanzbegeisterung war ungebrochen. Wir trainierten zweimal die Woche jeweils zwei Stunden und wenn’s nicht reichte auch noch am Wochenende. Die Tanzgruppe bestimmte auch unser Privatleben, keine Frage. Wir waren Anfang bis Ende 20 und auf Zukunft und Vorwärtskommen ausgerichtet in allen Lebenslagen. Die „Gruppe“ bot dafür eine optimale Plattform.
Wir sind in den 60-ern groß geworden. In Zeiten von Rainer Langhans und Uschi Obermaier, von Kommunen, Kommunarden und „Langhaarigen“, weg von „Diktatur“ und Obrigkeitshörigkeit hin zu „jeder hat was zu sagen und darf mitbestimmen“. Wir stellten sehr schnell fest, dass das auch nicht der Weisheit letzter Schluss war. Aber wir konnten uns ausprobieren, Verantwortung übernehmen und auch tragen, Zukunftsvisionen entwickeln, Erfolge haben, sie gemeinsam genießen, aber auch mal scheitern. Ich bring das alles mal auf den Punkt: „Einer für alle – alle für einen“ und nur gemeinsam sind wir stark! Wie sehr wir dieses stabile Fundament noch brauchen würden, war uns zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst.
9_1982_erster Lehrgang mit Marti.jpgJahreswechsel 1981/1982
Wieder einmal waren wir auf dem Weg zu einem Lehrgang. Diesmal nach München zusammen mit den Reutlinger Tanzleitern zum Lehrgang für ungarischen Volkstanz bei Sándór Timár, seines Zeichens Chef des ungarischen Nationalensembles – besser ging’s nicht!
Der Lehrgang war eine Wucht und eine erneute Wende für unsere Tanzausrichtung. Sándór Timár war Förderer, Unterstützer und Sprachrohr der so genannten Tanzhausbewegung, einer neuen Generation junger ungarischer Tänzerinnen, Tänzer und Musiker, die über die Dörfer im gesamten ungarischen Sprachraum reisten, um originale Melodien, Lieder, Schritte und Tanzformen zu sammeln, zu katalogisieren und für die Bühne aufzuarbeiten.
Zwei Tänze aus diesem unerschöpflichen Repertoire sind bei uns nachhaltig hängen geblieben. Einmal der Tanz aus Gyimes, ganz im Osten des ungarischen Sprachraums, dessen Melodie aus Trommel für den Takt und Flöte für die Melodie bestand – für unsere Ohren total fremd, zumal wir zum ersten Mal gegen den Takt tanzen mussten – für manche ist das normal für uns war’s schwierig. Zum anderen ein Paartanz aus Marosszék mit integriertem Männertanz und dazugehörigem Gesang. Diese Linie – den originalen Volkstanz - wollten wir unbedingt weiterverfolgen.
Und wieder fragten wir um einen Lehrgang für unsere beiden Gruppen mit den o.g. Tänzen und einer entsprechenden Choreografie an. Und wieder erhielten wir eine Zusage. Wenn nicht Timár selbst kam, so wollte er doch einen adäquaten Ersatz schicken. Wir waren happy! Bis zum geplanten Termin im November 1982 wollten wir die Lehrgangsschritte mit der ganzen Gruppe aufarbeiten.
Anfang November schickte uns Sándór Timár also seine beste Vertretung. Ali und Joska-bácsi (Josef Muth war unser Landsmannschaftsvertreter) holten sie in Stuttgart vom Bahnhof ab – klein, zierlich, 20 Jahre jung mit großen dunklen Augen, die glücklich strahlten, als Joska-bácsi sie in perfektem ungarisch begrüßte. Márta Széll sprach damals genau so viel deutsch, wie wir ungarisch – nix!! Die Rettung waren rudimentäre Englischkenntnisse auf beiden Seiten, ein Langenscheidtwörterbuch, Hände und Füße und eine sprichwörtliche „Liebe auf den ersten Blick“ beim ersten Training.
Wir mussten zeigen, was wir konnten und wie wir den Lehrgang umgesetzt hatten – wir haben alles gegeben – Márti war beeindruckt.
Wir haben ihr vermittelt, was wir wollten – Márti war beeindruckt und zunächst ratlos!
Nach einer schlaflosen Nacht (so hat sie es uns im Nachhinein erzählt) hat sie ihr Lehrgangsprogramm angepasst und losgelegt – und wir konnten uns warm anziehen!
Paartanz aus Gyimes hieß, zu atonaler Musik gegen den Takt den richtigen Einsatz zu finden und die Schritte richtig zu setzen.
Paartanz aus Marosszék bedeutete für alle Ungarisch singen und tanzen gleichzeitig. An den Hoch/Tiefbewegungen wurde gefeilt – also wiederholen, wiederholen, wiederholen – die Waden- und Oberschenkelmuskeln waren „not amused“. Die Jungs bekamen Sondertraining für den Männertanz und wieder mal blaue Schienbeine.
Schlussendlich bekamen wir einen Mädchentanz aus Sárköz – ohne Musik – wir mussten selber singen! Da kam echte Panik auf.
Mártis Meisterstück waren nicht nur die tollen Choreografien, die ihre ureigenste Handschrift trugen, sie legte mit uns auch eine Gesangseinheit hin, die sich gewaschen hatte: In einer „Nacht- und Nebelaktion“ hatte sie sämtliche Texte in Lautschrift (wir konnten ja nicht ungarisch lesen) auf Tapetenbahnen geschrieben und in der Trainingshalle an die Wand geheftet. Wir standen davor und mussten mit ihr zusammen singen und zwar alle und nicht nur leise und schüchtern vor uns hin, sondern laut und immer lauter und lauter, bis man uns vor der Halle hören konnte. Sie war unerbittlich. Aber sie war erfolgreich und wir mit ihr. Wir haben sie geliebt und sie uns und diese Liebe hält bis heute an. Was daraus noch alles entstanden ist, erzähl ich in den nächsten Folgen.
Wir freuen uns schon, Márti an unserem Jubiläum im Oktober bei uns begrüßen zu dürfen.

Bis dahin bleibt neugierig.
Eure Babs

J H - 21:57 @ 50 Jahre